In meiner ersten Rede im Niedersächsischen Landtag habe ich heute dargelegt, warum die SPD-Fraktion den Gesetzentwurf der CDU für den Erhalt der Förderschulen im Förderschwerpunkt Lernen klar ablehnt. Wir wollen stattdessen gemeinsam an besseren Rahmenbedingungen für Schule und Bildung für alle Kinder und Jugendlichen arbeiten. Für uns ist der in der letzten Wahlperiode gemeinsam erarbeitete und beschlossene Entschließungsantrag „Umsetzung der Inklusion an Niedersachsens Schulen verbessern“ am 4. Juli 2021 dafür eine tragfähige Basis.
Mit ihrem Antrag verlässt die CDU diese gemeinsame Basis und schlägt einen Weg in eine andere Richtung ein. Der mühsam erarbeitete, aber weitgehend anerkannte Minimalkonses bei der Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wird mit dem Gesetzentwurf der CDU wieder einmal in Frage gestellt.
Schüler:innen in den Blick – statt Schulform
Der Schwerpunkt im Gesetzentwurf der CDU-Fraktion liegt offensichtlich auf der Institution Schule: Er zielt darauf ab, dass die noch vorhandenen Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen weitergeführt werden – obwohl ihr Auslaufen längst beschlossen ist. Dieser Beschluss wurde übrigens mit überwältigender parlamentarischer Mehrheit gefasst. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass kein Kind die Förderschule L verlassen muss, es werden nur keine neuen Schüler:innen mehr aufgenommen. Darüber hinaus soll laut dem Antrag auch noch die Möglichkeit für die Ausweitung der Angebote geschaffen werden. Im ersten Satz der Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfes ist die Rede von einer „Beschulung“ von Schülerinnen und Schülern. Damit wird die Schule als Einrichtung in den Blick genommen, in der etwas mit den Kindern und Jugendlichen gemacht wird – sie werden eben „beschult“.
Die SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag vertritt in allen pädagogischen Handlungsfeldern eine andere Sicht: Wir plädieren nicht wie die CDU für eine „wichtige Säule der niedersächsischen Schullandschaft“ – wir schauen primär auf die Kinder und Jugendlichen und deren individuelle Bedürfnisse und fragen danach, wie ihre zuständige wohnortnahe Schule zu gestalten und zu entwickeln ist. Die Schule muss für die Kinder und Jugendlichen passend gemacht werden, nicht umgekehrt!
Bildung für alle statt Beschulung
Wir gehen nicht von der Vorstellung der „Beschulung“ aus, sondern treten für das Ziel der „Bildung“ aller Kinder und Jugendlichen ein. Bildung ist nach unserer Auffassung die Voraussetzung für Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben und für die Entwicklung der Persönlichkeit. Dabei will ich der CDU-Fraktion nicht absprechen, dass nicht auch sie dieses Ziel verfolgen. Doch die CDU setze sich für eine Institution ein, die mehr und mehr aus der Zeit gefallen ist. Das spiegelt sich übrigens auch im Wahlverhalten der Erziehungsberechtigten wieder. Besuchten im Jahr 2013 noch über 13.000 (13766) Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf Lernen eine Förderschule, so waren es im Jahr 2022 noch 4346. Damit besuchen nur noch 17,74% der Schüler:innen mit entsprechendem Unterstützungsbedarf die Förderschule Lernen.
Die Impulse durch das Übereinkommen der Vereinten Nationen führten zu der Entscheidung, einzig diese Form der Förderschulen auslaufen zu lassen. Den CDU-Vorstoß kann man nur als Versuch betrachten, geschichtsvergessen das Rad der Entwicklung aufzuhalten oder zurückdrehen zu wollen. Der Verweis auf die Konvention der Vereinten Nationen bewegt nicht alle zur Einsicht, schon gar nicht zum entsprechenden Handeln.
Überkommene Vorstellungen von Schule
Die Frage ist, welche Argumente für den Erhalt der Institution vorgebacht werden? Letztlich zeigen sich hier tradierte Vorstellungen:
- kleinere Klassen
- pädagogisch besonders geschultes Personal
- langsameres Vorgehen (was heißt: Weniger Lernstoff in der gleichen Zeit wie auf der weiterführenden Schule)
- persönliche „Förderungsangebote“
Es schwingt eine Vorstellung von „Schonraum“ mit, in dem sich Kinder und Jugendliche angenommen fühlen, nicht gehänselt werden, den Schulalltag „angstfrei bewältigen können“ (Zitat aus dem Gesetzentwurf) und Selbstbewusstsein entwickeln können. Diese entwicklungsförderlichen Lernbedingungen erwarte ich für alle Kinder und Jugendlichen an allen Schulen. Und die im Antrag beschriebene Notwendigkeit lässt sich auch als Nichtanerkennung der pädagogischen Arbeit der Lehrkräfte an Allgemeinbildenden Schulen lesen.
Dass die ausdrückliche Zuwendung zu den Kindern und Jugendlichen, die beim Lernen und bei ihrer Entwicklung insgesamt eine besondere Unterstützung benötigen, positive Auswirkungen für ihre emotionale und soziale Entwicklung hat oder haben kann, steht außer Frage. Aber was können ungewollte Nebenwirkungen dieser Praxis sein? Es gibt durchaus auch kritische Stimmen zur Förderschule
Ich will ein paar kritische Aspekte im Zusammenhang mit der Förderschule L nennen:
- Pädagogisch: Das Lernen in einer kleinen Gruppe leistungsschwächerer Schüler*innen ist anregungsärmer, da leistungsstärkere Schüler*innen als Orientierung und als Unterstützer fehlen.
- Pädagogisch/Psychologisch: Der Besuch der Förderschule kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führen (Ich bin auf einer Schule für schwächere Schülerinnen und Schüler, also gehöre ich auch zu ihnen)
- Sozial: Der Besuch der vom Wohnort oft zwangsläufig entfernten Förderschule erschwert oder verhindert Kontakte im Freizeitbereich
- Beruflich: Mit dem Abschluss der Förderschule sind unzureichende Abschlüsse verbunden
- Soziologisch: Die Aufnahme in eine Förderschule stellt eine Form der Ausgrenzung dar, die sich unter Umständen lebenslang fortsetzt. (Die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte Beate Rudolf stellt hierzu fest: „Immer mehr Kinder werden aus dem regulären Schulsystem ausgeschlossen. Dieser Ausschluss stellt meist den Auftakt lebenslanger Exklusionsketten dar.“).
- Ökonomisch: Das Vorhalten paralleler Systeme (Förderschule Lernen und Grundversorgung) ist finanziell wesentlich aufwändiger! Wer das will, verhindert, dass wir eine bessere Versorgung mit Inklusion erreichen.
- Politisch: Das dauerhafte Infragestellen von gesetzlichen Regelungen hinsichtlich des Status der Förderschule Lernen schwächt die gesellschaftliche Akzeptanz und damit die Inklusion als gesellschaftliches Leitziel. Schulgesetzliche Regelungen von solcher Tragweite dürfen niemals die Halbwertzeit von Legislaturperioden haben.
Inklusion verlässlich vorantreiben
Auch die CDU-Fraktion hat die Aussage der Entschließung „Umsetzung der Inklusion in Niedersachsens Schulen verbessern“ mitgetragen, in der es heißt: „Inklusion braucht eine verlässliche Richtung und Planungssicherheit.“ Wir brauchen in der Schulpolitik in Niedersachsen keine Debatte über Abschaffung oder Wiederherstellung einzelner Schulformen, sonder eine Debatte über die Gestaltung des Lernens in heterogenen Lerngruppen. Alle über einen Kamm scheren geht nicht! Für die SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag heißt das: Wie gewährleisten wir Bildung für jeden Einzelnen? Im Sinne der inklusiven Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft, die sich zu Differenz und Diversität bekennt, ist das die Frage nach einer ausdrücklich „inklusiven Bildung“.
In der Begründung des Gesetzentwurfs wird angeführt, dass die Verlängerung der Laufzeit der Förderschulen Lernen der Tatsache geschuldet war, dass die Rahmenbedingungen für die Inklusion noch zu verbessern und die Ressourcen zu erweitern waren. Jetzt zu behaupten, dass diese Notwendigkeiten noch gegeben sind (übrigens mir ist die empirische Basis nicht bekannt) und dass deshalb die Förderschule weiterbestehen muss, kommt mit Verlaub etwas platt daher. Mit solcher Argumentation erfindet man einen St. Nimmerleinstag.
Das Land braucht diese Rolle Rückwärts und damit Ihren Gesetzentwurf nicht, die Kinder und Jugendlichen erst recht nicht. Ich wundere mich immer wieder, mit welcher Hartnäckigkeit im deutschen Raum an einer Schulform festgehalten wird, die in anderen Ländern gänzlich verzichtbar ist. Wir müssen den Austausch über die künftigen Bildungsangebote nicht neu beginnen, sondern konstruktiv fortsetzen. Im Niedersächsischen Landtag wurde sich nach jahrelangen Diskussionen auf eine Entschließung geeinigt, die eine hervorragende Grundlage für die Weiterentwicklung der gesetzlich eingeführten inklusiven Schule in Niedersachsen ist.
Der Katalog der Maßnahmen ist beeindruckend, hierauf können wir weiter aufbauen. Es gibt eine Menge zu tun, die inklusive Bildung zu verbessern – das ist auch das Erbe unterschiedlicher Regierungskoalitionen in den letzten zehn Jahren. Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem Partner in der Regierung weitere Schritte auf einem erfolgreichen Weg für eine zeitgemäße Bildung und eine inklusive Schule gehen werden.
Im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen sollten wir gemeinsame Anstrengungen dafür unternehmen. Wir fordern die CDU daher auf, nicht an einer Institution festzuhalten, sondern die inklusive allgemeine Schule mit uns alle gemeinsam zu verbessern.